Die Schule der Braunhemden
Stade. Wie es der Zufall wollte, tagte der Stader Kulturschausschuss diesmal in der Stader Jugendherberge. Ziemlich genau 80 Jahre zuvor war es auch die örtliche Jugendherberge, in der die soeben an die Macht gekommenen Nationalsozialisten ab April 1933 die ersten 32 Hilfspolizisten ausbildeten. Sie wurden aus Stahlhelm, SA und SS rekrutiert und sollten die reguläre Polizei unterstützen - natürlich im Sinne der Nazis.
Bald darauf fand die SA ganz in der Nähe ein Domizil für ihre Nachwuchsschulungen: Die Taubstummenanstalt in der Wallstrasse wurde aufgelöst und die Braunhemden zogen ein. So wurden sie wegen der Uniform der SA (Sturmabteilung) genannt, die hier eine SA-Sportschule eröffnete. Die Stadt Stade bezahlte das mit über 50.000 Reichsmark, schreibt der ehemalige Stadtarchivar Dr. Jürgen Bohmbach in seinem Buch „Justiz im Nationalsozialismus im Landgerichtsbezirk Stade“ (2004). Durch weitere Zuwendungen sollen insgesamt 64.000 Reichsmark geflossen sein, berichtete Linke-Ratsherr Tristan Jorde im Ausschuss: „Das war damals viel Geld.“
Linke will Info-Material über SA-Schule
Die Linke-Fraktion im Stader Stadtrat will mehr über diese Geschichte und die Unterstützung von SA, SS und Stahlhelm durch die Stadt wissen und hatte beantragt, dem Ausschuss und der interessierten Öffentlichkeit städtische Materialien und Unterlagen dazu zur Verfügung zu stellen. Das war im Rahmen der Diskussion um die Ostmarkstraße ebenfalls geschehen und sei für die folgenden Bewertungen sehr hilfreich gewesen. Doch eine Mehrheit der Ausschussmitglieder lehnte den Antrag ab - ohne Begründung.
Dabei lohnt sich ein genauerer Blick auf die bewegte Geschichte des Gebäudes, wie eine erste Recherche zeigt. Dr. Thomas Bardelle vom Niedersächsischen Landesarchiv hat dazu bereits Material zusammengestellt und eine Übersicht verfasst. Darin heißt es, dass anlässlich der 75 Jahr-Feier der Taubstummenanstalt in Stade 1932 im Stader Tageblatt unter Berufung auf den damaligen Bürgermeister Dr. Arthur Meyer verkündet wurde, dass die Aufhebung der Stader Anstalt nicht mehr zur Debatte stand. Es sei gelungen, sie der Stadt Stade zu erhalten. Meyer wünschte der Anstalt „weitere Jahrzehnte segensreichen Wirkens“ . Es sollte anders kommen.
Taubstummenschule raus, SA rein
Kurz nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde im Juni 1933 das endgültige Aus der Taubstummenanstalt beschlossen. Die Schülerinnen und Schüler fuhren meist am Wochenende nach Hause und wohnten, während sie die Woche über den Unterricht besuchten, bei Stader Familien als Pflegekinder. Nun mussten sie eine größere, weiter entfernte Einrichtung aufsuchen, berichtet der Stader Michael Quelle, der zwei der Kinder viel später persönlich kennenlernte: Drei gehörlose Mädchen aus der Einrichtung waren damals Spielgefährtinnen seines Vaters, seine Großeltern hatten sie in Pflege genommen.
Schon zwei Monate nach der Schließung der Taubstummenanstalt zog die SA-Sportschule ein und hielt ihre Ertüchtigungskurse ab. Sie blieb aber nur zwei Jahre. Die SA, einst Straßenkampftruppe der Nazis, war unter Ernst Röhm eine mächtige Kraft geworden. Zu mächtig für Hitlers Geschmack, der die SA-Führung im Sommer 1934 liquidieren ließ. 1935 zog die Heeresverwaltung in das Gebäude ein.
Ab August 1938 bezog die Mittelschule das Haus an der Wallstraße. Im Dachgeschoss wurde 1942 Stades erste Kolonialausstellung gezeigt - mit der Sammlung von Karl Braun, die aktuell Thema einer deutsch-tansanischen Ausstellung in Schwedenspeicher und Kunsthaus ist. „Damals war das natürlich eine Ausstellung aus einer komplett revisionistischen, rassistischen Perspektive“, erklärt Dr. Sebastian Möllers, der Leiter der Stader Museen. Hans Wohltmann, einst Stadtarchivar und Direktor des Athenaeums in Stade, berichtete 1947 im Stader Jahrbuch, die Sammlung sei nach dem Krieg „völlig zerstört“ vorgefunden worden.
Von völliger Zerstörung will Sebastian Möllers nicht sprechen: „Die zwei Kisten und ein Koffer, die wir gefunden haben, enthielten über 600 Objekte.“ Ursprünglich muss aber weit mehr Material dagewesen sein. Der Übergabequittung ist zu entnehmen, dass Braun der Stadt Stade einst elf Kisten übergab. Seine Inventarhefte fehlen zum Großteil.
Erst Flüchtlingsunterkunft, dann Bauamt
Ab Februar 1945 wurde die Mittelschule, in der sich auch die Ausstellung befand, mit Flüchtlingen aus dem Osten belegt. Nach der Besetzung Stades quartierten die Briten vier Monate lang ehemalige Zwangsarbeiter ein, schreibt Jürgen Bohmbach in der Schulgeschichte der Realschule Campe. Am 3. September 1945 begann der Schulbetrieb wieder, und 1962 zog die Schule in das neue Gebäude in Campe um. Das Gebäude an der Wallstraße übernahm Anfang 1963 das Bauamt und nutzte es bis 1988. Heute ist das Haus das zentrale Unterrichtsgebäude der Volkshochschule.