DHP | 110 Der rechte Populismus und das Bedürfnis nach Nicht-Veränderung

Götz Eisenberg

„Wir dürfen nicht warten, bis das Gemeinwesen verrottet ist und die moralische Verkrüppelung ein gesellschaftliches Betriebsklima geschaffen hat, das die Mühe um Anstand und politische Urteilskraft immer beschwerlicher und vielfach aussichtslos werden lässt.“

 

(Oskar Negt: Erfahrungsspuren)

Gelegentlich bekomme ich Einladungen zu Veranstaltungen, die so formuliert sind, dass ich mich gleich wieder ausgeladen fühle. Zum Beispiel heißt es, man wolle zum Jahresende noch einmal ins Gespräch kommen und Gedanken austauschen: „Das geeignete Format dazu heißt ein weiteres Mal – Open Space. Es gibt 3 Zeitslots à 30 Minuten …“ Bei einer anderen Veranstaltung möchte man mit einem „Fishbowl“ beginnen. Das ist nicht etwa eine delikate Fischbowle, wie sie in Grönland getrunken werden mag, sondern eine besonders ausgefuchste und reichlich komplizierte Diskussionsmethode. Auf solche Mätzchen habe ich keine Lust, und so bleibe ich lieber zu Hause und denke mir meinen Teil.

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Die gebenedeiten Karikaturisten, die uns unter dem Künstlernamen „Rattelschneck“ allwöchentlich in der Süddeutschen Zeitung mit einem Cartoon erfreuen, zeigen diese Woche zwei ältere Damen mit Einkaufstrolleys, die sich auf dem Gehweg getroffen haben und neben einem am Boden hockenden Bettler stehen. Die eine sagt: „Christian Lindner wird Vater.“ Die andere quittiert diese Mitteilung mit der trockenen Bemerkung: „Hoffentlich weiß das Kind noch nichts davon.“

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Heute wollte ich mit dem Rad zum Alten Friedhof fahren. Nach ein paar hundert Metern begegnete mir die Frau eines Freundes, der vor etwa zwei Jahren gestorben ist. Ich hielt an und wir sprachen miteinander. Ihre Einsamkeit war deutlich spürbar und teilte sich mir mit. Wir beschlossen, ein paar Schritte gemeinsam zu tun. Ich stellte mein Rad am Uni-Hauptgebäude ab und wir gingen zu Fuß weiter. Wir waren keine fünfhundert Meter gegangen, da meldete sich ihr Telefon. Ihre Tochter wartete mit der Enkelin auf dem Weihnachtsmarkt. So trennten sich unsere Wege bereits wieder und ich ging den Rest des Weges allein zum Alten Friedhof. Es ist immer ein besonderer Moment, die eiserne Pforte zu öffnen und in die Atmosphäre des Friedhofs einzutreten. Bei gutem Wetter waren recht viele Menschen unterwegs. Mein Ziel war die Bank an Röntgens Grab, mit der die Leserinnen und Leser der DHP bereits vertraut sind. Ich hatte die Tasche voller Nüsse und hoffte, Abnehmer dafür zu finden. Kaum saß ich, da tauchten die ersten neugierigen Eichhörnchen auf. Manche trauten sich nicht ganz so dicht an mich heran und ich rollte ihnen die Nüsse auf dem Boden vor der Bank zu, andere kannten keine Scheu und sprangen neben mir auf die Bank und nahmen die Nüsse aus meiner Hand entgegen, wobei sie mit ihren Pfötchen meine Hand berührten und sich dort abstützten. Nicht alle Nachbarn waren willkommen, Eindringlinge aus anderen Revieren wurden fauchend vertrieben: „Das ist unser Nusslieferant!“ Als meine vielleicht fünfundzwanzig Nüsse verteilt waren, klopften die kesseren Eichhörnchen auf meine Arm, um Nachschub einzufordern. Um nicht ständig aufs Neue Enttäuschung hervorzurufen, stand ich auf und ging weiter. Auf einer Wiese im oberen Teil des Friedhofs absolvierte ich ein kleines Gymnastikprogramm, dann wandte ich mich dem Ausgang zu und ging nach Hause. Nicht ohne unterwegs mein Fahrrad abzuholen, das erfreulicherweise noch da stand, wo ich es abgestellt hatte, was ja so selbstverständlich nicht ist. In alten Filmen sieht man manchmal, wie Menschen ihre Räder vor der Haustür an die Wand lehnten, im Vertrauen darauf, es später noch dort vorzufinden. Räder besaßen zu jener Zeit nicht unbedingt Schlösser, und man konnte sich in der Regel auf die Ehrlichkeit seiner Mitmenschen verlassen. Die Grenzen zwischen mein und dein waren streng gezogen und verinnerlicht und wurden von den meisten respektiert. Es gab Ausnahmen, aber diese blieben eben Ausnahmen, die die Regel bestätigten.

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Assad ist von den vorrückenden Rebellen-Milizen gestürzt worden und hat sich ins Moskauer Exil zurückgezogen und unter die Fittiche von Putin begeben. Sogleich stellt sich die bange Frage: Was wird jetzt aus Syrien? Wir haben so viele Diktaturen stürzen sehen, häufig wurde in der Folge ein furchtbares Regime von einem noch furchtbareren abgelöst, die Menschen kamen, wie man so sagt, vom Regen in die Traufe. Hinter der Fröhlichkeit und Freude, die am Wochenende auf den Straßen und Plätzen überall in Europa zu sehen waren, lauern Enttäuschungen und neue Gewalt. Viele in den letzten Jahren aus Syrien geflohene Menschen träumen von einer Rückkehr in ihre Heimat, wollen aber noch warten und aus sicherer Entfernung beobachten, wie sich die Lage entwickelt. Syrien ist geopolitisch und geostrategisch zu bedeutsam, als dass ihm verschiedene Akteure Zeit lassen könnten, seinen eigenen Weg zu finden. Das entstandene Vakuum wird also rasch gefüllt werden. Aber mit was? Und von wem? Als Sieger geriert sich einstweilen Muhammad al-Dscholani, der Chef der islamistischen HTS-Miliz. Er erinnert vom Typus her an den tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow, der ein enger Verbündeter von Putin ist. Hoffen wir, dass die Ähnlichkeit nur äußerlich ist. Einstweilen tritt al-Dscholani moderat und kompromissbereit auf, was sonst die Sache von Fanatikern und Islamisten nicht ist. Bilder von bewaffneten Kämpfern, die von der Ladefläche eines Lastwagens herab den Koran verteilen, lassen nichts Gutes erwarten. Auch dass al-Dscholani seine erste Rede nach dem Sturz des Assad-Regimes in einer Moschee gehalten hat, lässt mich seinen Lippenbekenntnissen zu Toleranz und Minderheitenrechten nicht recht trauen. Manches erinnert an den Verlauf des sogenannten arabischen Frühlings von 2011, der ja auch zu Beginn von großen Hoffnungen auf Befreiung getragen war, die dann bald von islamistischen Regimes und neuem Terror erstickt wurden. Die Gefängnisse füllten sich erneut – mit anderen Insassen. Gefoltert werden nun andere. Es ist widerlich und beschämend, dass Spahn und andere bereits einen Tag nach Assads Sturz die Abschiebung von nach Deutschland geflüchteten Syrerinnen und Syrern fordern.

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