Die sechs Leben des Gregor Gysi

Von Karsten Wisser ( Buxtehuder / Stader Tageblatt )

BUXTEHUDE. Wer eine Karte abgekommen hat, zählt zu den Glücklichen. Im mit 70 Zuhörern ausverkauften Ratssaal des Buxtehuder Rathauses unterhält der Politiker, Rechtsanwalt und Autor Gregor Gysi sein Publikum zweieinhalb Stunden lang in Bestform. In der vom Künstler Erwin Hilbert moderierten Gesprächsrunde will Gysi eigentlich über seine Autobiografie „Ein Leben zu wenig“ sprechen. Es wird ein launiger, teils hintergründiger Einblick in die bundesdeutsche Geschichte und das Leben des letzten Vorsitzenden der DDR-Staatspartei SED. Der Ratssaal ist als Veranstaltungsort gewählt worden, weil sich Hilbert diesen aufgrund der Atmosphäre gewünscht hat. Mit etwas Werbung wäre die Malerschule mit ihren 200 Plätzen auch voll geworden. Aktuell kommt niemand mit politischem Interesse am Thema Thüringen und der Krise der CDU vorbei. „Tut dir Bodo Ramelow eigentlich leid?“, will Hilbert wissen. „Nein, der ist doch jetzt in einer ausgezeichneten Ausgangsposition“, sagt Gysi, der auf jede Frage eine minutenlange, aber immer unterhaltsame und mit einer großen Portion Selbstironie gewürzte Antwort parat hat. Hilbert hat Gysi bei einer ebenfalls von ihm moderierten Talkshow in seiner Heimatgemeinde Tostedt kennengelernt. Er sei ein bunter Vogel, so Gysi über den Künstler, und deshalb eine Abwechslung. „Aber einmal im Jahr reicht das auch“, so Gysi. Es gibt kaum ein Thema, das Gysi und Hilbert nicht streifen Merz sei erzkonservativ und wäre schlechte für die CDU und gut für SPD, wenn er das Duell um den Parteivorsitz gewinnen würde. Jens Spahn hat aus Sicht von Gysi in der CDU dazu aufgrund seiner gleichgeschlechtlichen Partnerschaft keine Chance. „Obwohl auch die CDU toleranter geworden ist“, so Gysi. Die derzeit gebetsmühlenartige Abgrenzung der CDU in Richtung AfD und Linke sei ideologisch motiviert und „apolitisch“. Wofür Bundeskanzlerin Angela Merkel stehe, wisse er bis heute nicht. Sie hätte mindestens die Angleichung der Renten von Ost und West erreichen müssen. Um nicht als Ostdeutsche wahrgenommen zu werden, habe sie den Osten in ihrer Regierungszeit vernachlässigt. Merkel sei in der Nach-Kohl-Ära Vorsitzende geworden, weil sie im Gegensatz zu den mächtigen Männern der CDU in Sachen Spenden völlig unverdächtig gewesen sei. Wie Merkel danach diese Mächtigen einen nach dem anderen in den politischen Ruhestand geschickt habe, sei ein Lehrbeispiel für weibliche Politik gewesen. „Erst verliert sie kein böses Wort über einen und plötzlich sitzt du neben deinem Stuhl“, zitiert Gysi einen hochrangigen Unionspolitiker. Trump, Viktor Orbán, Greta Thunberg, Erdogan, Putin. Es gibt kaum ein wichtiges Thema, das Gysi und Hilbert nicht streifen. „Im Gegensatz zu Trump muss ich mir eingestehen, dass ich beim Klimawandel kein Experte bin und deshalb höre ich darauf, was die weit überwiegende Zahl der Experten sagt“, so Gysi zum Thema Klimawandel. Den Aufwind für autoritäre Machthaber erklärt Gysi dadurch, dass sie in der Lage seien, angekündete Punkte schneller durchzusetzen. „In der Demokratie reden wir zwei Jahre darüber und setzen am Ende ein Drittel um“, so Gysi. Aber Achtung: „Ich warne dann immer davor, dass man diese Typen zwar wählen kann, aber nicht wieder abwählen kann.“ Autobiografie erzählt von Gysis zahlreichen Leben Als junger Anwalt sollte er für den bekannten Bürgerrechtler und Pastor Rainer Eppelmann die Kommunalwahl von 1989 anfechten und die Zulassung des Neuen Forums als Verein juristisch durchsetzen. In seiner Autobiografie erzählt er von seinen zahlreichen Leben: Gregor Gysi der Anwalt, der Politiker, der Autor und Moderator und – nicht zuletzt – der Familienvater. Er habe festgestellt, dass er mehrere Leben gelebt habe: Erstens Kindheit und Jugend in der DDR, zweitens Studium, drittens Rechtsanwalt in der DDR, viertens Bürger der BRD, fünftens von der Mehrheit abgelehnt zu werden, und sechstens gebe das Leben, ,,das ich jetzt führe“. Seine häufigen Talkshow-Auftritte erklärt er durch seine Unbeliebtheit in den 90er Jahren. Viele in Ost und West mochten mich nicht. „Und ich fand mich besser“, so Gysi. „Weise ist man erst mit 70. Das kann man selbst erst einschätzen, wenn man 70 geworden ist“, so Gysi zum Thema Alter. Er ist 72 Jahre alt. Gysi rät den Menschen, die Vergünstigungen des Alters anzunehmen. Bis vor einiger Zeit sei er im Bus aufgestanden, wenn eine junge Mutter in den Bus gestiegen sei. „Heute klopfe ich dem jungen Mann vor mir auf die Schulter und bitte ihn aufzustehen.“ In den Ruhestand will er aber trotz erreichter Altersweisheit noch nicht. Adenauer sei bei seiner ersten Kanzlerschaft 73 Jahre alt gewesen. Gysi: „Ich bin ein Jahr jünger.“ Zur Person und zum Buch Gregor Gysi – 1948 in Berlin geboren – war von Ende 1989 bis 1993 letzter Vorsitzender der SED und ihrer Nachfolgepartei PDS. Es sitzt mit einer Unterbrechung seit 1990 im Bundestag. Von 2005 bis 2015 war er dort Fraktionsvorsitzender der Linksfraktion. Das Buch: Gregor Gysi, „Ein Leben ist zu wenig – Die Autobiographie“, 583 Seiten mit 45 Abbildungen, erschienen im Aufbau Verlag; 24 Euro; Taschenbuch 14 Euro.